Schubkraft

Im Zentrum der 2D-Animation Schubkraft steht eine einzige Frage: Was wäre, wenn wir nicht graduell, sondern schubweise altern würden? Stell dir vor, dein Körper und dein Denken würden sich nicht langsam weiterentwickeln, sondern alle Veränderungen würden auf einmal stattfinden. Was würde das verändern? Wie würden wir damit umgehen und wie würde das die Beziehungen zu den Leuten um uns herum beeinflussen? Ausgehend von diesen Fragen habe ich eine Geschichte geschrieben, in der wir eine Familie bei ihren Schüben begleiten. Die Erzählung ist in vier Akte unterteilt. Den ersten Akt habe ich animiert. Die weitere Handlung ist unten als Text nachzulesen.

Akt 2 // Lina

„Komm Lina, noch ein Situp!“ Doch sie ist völlig außer Atem. „Es geht nicht. Fitness hin oder her – heute übertreibst du es.“ „Du wirst mir noch dankbar sein. Die Kalorien verbrennen sich nicht von selber.“ „ Jaa. Das sagst du schon seit meinem letzten Schub. Es ist nur frustrierend, sich so anzustrengen und keine Veränderung zu sehen.“ Ihre Mutter muss lachen. „So funktioniert das eben! Alles, was du jetzt machst, hat direkten Einfluss auf deinen nächsten Schub.“ Sie wird wieder weicher. „Sechs Tage noch.“

Lina betritt festlich gekleidet den Raum. Ihre Mutter eilt zu ihr. „Da wollen wir mal sehen, ob sich die ganze Bewegung ausgezahlt hat.“ Lina nickt langsam und geht zum Stuhl. Die allgemeinen Gespräche verstummen. Wind kommt auf. Alles wird weiß.

(Verwandlung)

Lina öffnet die Augen. Noch bevor sie einen Blick in den Spiegel werfen kann, trifft ihr Blick den ihrer Mutter. Eben noch hat diese erwartungsvoll den Kopf gereckt, nun aber wendet sie sich enttäuscht ab. Lina weiß sofort, was passiert ist. Ernüchtert sieht sie in den Spiegel. Sie hat sich durchaus verändert. Ihr Gesicht wirkt erwachsener und sie sitzt deutlich selbstbewusster da. Nur ihr Gewicht ist tatsächlich gleich geblieben. Sie betrachtet sich etwas länger im Spiegel und denkt nach. Schließlich geht sie entschlossen auf ihre Mutter zu. „Was sollte das? Wieso hast du mich so unter Druck gesetzt mit deinem Sportprogramm? Hauptsache abnehmen, really? Und jetzt, wo ich das ganze hinter mir habe, tust du so, als wäre mein Gewicht mein persönliches Versagen.“ Cut. Die Mutter verschränkt die Arme und pustet ruckartig die Kerze aus.

Akt 3 // Mutter // Simone

Simone steht im Bad vor dem Spiegel und cremt sich gestresst mit einer Anti-Falten-Creme ein. Ihre Mutter, die Oma der Kinder, schaut ihr über die Schulter. Etwas hektisch beginnt Simone vor sich hin zu reden: „Hast du das gelesen? Sie bringen ein spezielles Serum auf den Markt, das die Durchblutung anregen soll. Die Haut soll bis zu zehn Jahre jünger aussehen. Was meinst du? Funktioniert sowas?“ „Simone, stress dich nicht so. Dein Aussehen ist nicht das Einzige, was dich ausmacht.“ „Nein. Aber wenn ich alt aussehe, fühle ich mich auch alt.“ „Ich weiß, dass das schwer ist. Älter werden ist nichts für Angsthasen. Aber ich kann dir aus eigener Erfahrung sagen, dass es auch seine guten Seiten hat. Du wirst vieles besser verstehen und die Dinge gelassener sehen.“

Am Tag des Schubes ist sie noch immer besorgt und gestresst. Der zuständige medizinische Betreuer legt ihr beruhigend die Hand auf die Schulter und führt sie zum Stuhl.

(Verwandlung)

Sie öffnet die Augen und geht erstmal in sich. „Eh, mein Knie tut weh.“ Sie denkt weiter nach. „Aber sonst.. Doch, ich fühle mich gut. Es ist, als wäre ich leichter als vorher. Die Anspannung, die ganzen Sorgen sind von mir abgefallen.“ Sie strahlt ihre Mutter an. „Ich glaube, du hattest Recht!“ Sie erhebt sich vorsichtig. Im festlich geschmückten Wohnzimmer macht sich eine heitere Gesprächsatmosphäre breit. Man sieht Simone in ein Gespräch mit Lina vertieft. Die fröhliche Stimmung wird von einer Frage unterbrochen: „Wer ist eigentlich als nächstes dran?“ Lina erwidert mit verkniffen-traurigem Gesicht: „Oma.“ Oma pustet bedächtig die Kerze aus.

Akt 4 // Oma // Waltraud

Waltraud bleibt nach dem Essen noch länger am Tisch sitzen. Die Kinder sind schon aufgestanden. Nur Simone sitzt ihr noch gegenüber. „Ich wollte es lange nicht wahrhaben, aber ich glaube, es ist der Zeitpunkt gekommen, an dem ich mit dir darüber reden muss.“ Simone schaut etwas verwirrt, bis sie ahnt, worum es geht. Sie bemüht sich, stark zu bleiben. „Wir wissen beide nicht, ob ich nach dem nächsten Schub noch bei euch sein werde. Natürlich besteht eine gewisse Chance, aber ich möchte mich nicht einer Illusion hingeben.“ Simone nickt traurig. „Viel lieber möchte ich die Zeit, die mir bleibt, voll ausschöpfen.“ „Hast du etwas Bestimmtes, das du noch machen willst, bevor du.. ?“ Ihr stehen Tränen in den Augen. „Es gibt keine einzelne Sache, die ich unbedingt noch erledigen muss. Mir sind eher die Menschen wichtig, die mich während meines Lebens immer wieder glücklich gemacht haben. Sie haben mir schon in so vielen Lebenslagen zur Seite gestanden. Wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich all meine Freunde und Familie zu Kaffee und Kuchen einladen. Ja. Das ist mein Wunsch.“

(Eindrücke von verschiedenen Besuchen und angeregten Unterhaltungen)

(Fade to black)

Die Umgebung wechselt vom heimeligen Wohnzimmer zu einem hübsch eingerichteten, aber doch steril wirkenden Raum eines Instituts. Es sind mehr Leute anwesend als bei einem gewöhnlichen Schub und sie sind festlich gekleidet. Waltraud betritt den Raum. Alle Augen richten sich auf sie. Sie geht umher, um die letzten Abschiedsworte zu sprechen. Viele Leute umarmt sie, zu den Kindern beugt sie sich runter. Schließlich legt sie sich auf den Sessel, der nach hinten geklappt wurde. Sie wird an ein EKG-Gerät angeschlossen, um den Herzschlag zu überwachen. Die Gespräche verebben. Der Schub beginnt. Cut.

Eine Kerze wird ausgeblasen. Rauch steigt auf.
Es wird schwarz.
Das Geschrei eines Babys durchbricht die Stille.